Ralf & Karin

Ralf
„Manchmal denkt er daran, mit seiner Posttasche einfach zur Bushaltestelle zu gehen – nach Nordenhaus zu fahren, den Zug zu nehmen. Nach Berlin. Oder Frankreich. Vielleicht Italien. Aber er tut es nie."
Ralf – Postbote, Ehemann, Maßstabsmensch
Ralf ist Anfang vierzig und seit über zwanzig Jahren Postbote in Windbergen. Er trägt sein Uniform mit einer Art stiller Würde – nicht aus Stolz, sondern aus Gewohnheit, vielleicht sogar aus Dankbarkeit. Der tägliche Rhythmus seiner Route gibt ihm Halt. Die klingelnden Briefkästen, die kurzen, belanglosen Gespräche. Niemand erwartet viel von ihm, und genau das ist seine Ruhe.
Er ist ein schlanker Mann mit hängenden Schultern und einem Blick, der oft zu Boden geht, als würde er dort die richtigen Worte suchen. Seine Haare sind dunkelblond, schon etwas dünner geworden, aber immer ordentlich geschnitten. Seine Schuhe sind sauber. Immer.
Ralf lebt mit seiner Frau Karin am Rande des Ortes, in einem Haus, das wirkt, als wäre es nie ganz fertig eingerichtet. Ihr Verhältnis ist freundlich, aber leise erschöpft. Sie sprechen, aber selten über etwas Echtes. Er spürt, dass etwas fehlt – vielleicht Nähe, vielleicht Mut – aber er benennt es nicht. Vielleicht, weil er gelernt hat, dass das Benennen nichts ändert.
In einem kleinen Schuppen hinter dem Haus baut Ralf an einer detailgetreuen Miniaturversion von Windbergen. Jedes Fenster, jede Lampe, jeder Gartenzaun ist mit Sorgfalt nachgebildet. Es ist seine stille Leidenschaft, seine Art, Ordnung in eine Welt zu bringen, die zu groß für ihn geworden ist.
Ralf liebt seine Arbeit, liebt den Gang durch Wind und Wetter. Aber manchmal, wenn er Zoë an der Kasse sieht, oder wenn ein Brief sich besonders glatt anfühlt, denkt er daran, wie es wäre, wenn etwas Unerwartetes geschähe. Er wird dann langsamer, steht kurz still –
und geht weiter,
wie immer.

Karin
„Sie hat sich nie gefragt, ob sie glücklich ist. Nur, ob jemand hinsieht."
Karin – Ehefrau, Serienheldin, Königin ihrer eigenen Bühne
Karin ist Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig. Sie lebt mit Ralf in einem Haus mit drei Fernbedienungen und zu vielen Kissen, und wenn sie ehrlich wäre, wüsste sie:
sie ist nicht unglücklich –
aber sie hatte sich das Leben anders vorgestellt.
Sie trägt gern enge Oberteile mit Spitze, hat ihre Haare rötlich gefärbt, und manchmal – wenn sie sich unbeobachtet fühlt – betrachtet sie sich im Spiegel mit einem leichten, ironischen Lächeln. Nicht weil sie sich schön findet.
Sondern weil sie sich erinnert, wie sie gesehen werden wollte.
Karin lebt in Serien.
Nachmittags läuft der Fernseher wie ein Herzschlag.
Sie kennt die Namen der Schauspieler, die Wendungen der Handlungen, die Musikstücke aus Staffel drei. Sie kommentiert laut, spricht Dialoge mit, als wäre sie selbst Teil der Kulisse.
Mit Ralf ist es still geworden.
Nicht feindlich. Nur… ausgewaschen.
Er redet wenig, riecht nach Regen und Papier, und baut an seiner kleinen Stadt, während sie von Städten träumt, in denen alles heller, härter, lauter ist.
Sie hatte eine Affäre mit Hans.
Kurz.
Nicht aus Liebe – eher aus Trotz gegen das Schweigen.
Und weil sie sich selbst spüren wollte,
wie eine Darstellerin, die endlich mal im Zentrum der Kamera steht.
Aber Hans ist kalter Tee.
Jetzt schaut sie wieder Serien, im Morgenmantel, und denkt:
„Wenn ich wollte, könnte ich verschwinden. Aber ich will gesehen werden."